Wir kennen das alle. Dinge die komisch beginnen bleiben meist komisch, und gehen für gewöhnlich nicht gut aus.
Um 5:50 Uhr starte ich mit dem Zug von Lienz nach Meran, und bin angenehm von der entspannten Radverladesituation überrascht. Osttirol ist einfach lässig!
Bahnhof Lienz: Start mit dem Zug Richtung Meran.
Motiviert geht’s Richtung Landesgrenze nach Südtirol. Ich freue mich auf eine spannende Ortlerbesteigung.
Der Berg und auch das Gelände Richtung Gipfel sind mir gut bekannt. Im Sommer bestieg ich den Ortler schon mehrmals mit Gästen. Wie bei allen Touren auf meiner Route werden auch heute die Verhältnisse im Vorfeld, als, sagen wir mal nicht ganz optimal beschrieben: viele Blankeispassagen, offene Spalten und wenig Schnee mit langen Tragestrecken der Ski ins und vom Tal.
Dazu kommt, dass der Skitourenaufstieg über eine Bedarfshütte, die Berglhütte führt. Sie ist nicht immer offen, daher plane ich eine Alternative ein: Übernachtung in Trafoi samt Aufstieg und Abfahrt am selben Tag.
Als Backup brauche ich die Hütte unbedingt, da ich wegen der unsicheren Wetterlage alleine unterwegs sein werde. Als Reservierungsbestätigung führe ich eine SMS vom Hüttenwirt mit.
Das Wetter ist schlecht. Es regnet, und ab 1600 Meter sind 10-20 cm Schnee angesagt. Für den kommenden Gipfeltag soll es ein Wetterfenster zwischen 6:00 und 12:00 Uhr geben.
Das könnte ausreichen, um von der Berglhütte aufzusteigen und wieder bis dorthin abzufahren. Wohlgemerkt könnte! Denn eines habe ich in meinem Bergsteigerleben leider auch gelernt:
Planung heißt den Zufall durch den Irrtum zu ersetzen.
Meine Planung: Auffahrt von Meran bis Drei Brunnen, Aufstieg zur Berglhütte, dort übernachten und, um sehr leicht unterwegs zu sein, werde ich einige meiner Dinge, die ich nicht unmittelbar für den Weg zum Gipfel brauche, dort deponieren. Ich muss auch jemanden finden, mit dem ich die Strecke am Bärenloch am Seil gehen kann. Mein Gast hat wegen der Wetterverhältnisse abgesagt.
Zu guter Letzt wieder bis zur Berglhütte abfahren.
Klingt gut, dennoch sitze ich einem gewaltigen Irrtum auf.
Da die Kommunikation mit dem Hüttenwirt eher holprig war, rufe ich ihn vom Zug aus noch an.
Beiläufig erfahre ich, dass er nicht aufsteigen wird, da außer mir niemand auf der Hütte übernachten möchte.
Der Hüttenwirt sperrt die Hütte nicht auf. Danke dass ich es auch erfahre.
Die Aussicht nach 1700 HM Radauffahrt und 400 HM Hüttenzustieg dann vor einer verschlossenen Hütte im leichten Schneefall zu stehen übersteigt meine Abenteuerperspektive. Ich plane um.
Angekommen in Meran, fahre ich im stärker werdenden Regen in eine nette Bäckerei und hole mein Frühstück nach.
Während die hinter mir sitzende deutsche Akademikerfamilie einen ernsten historischen Bogen von den „Südtirolbumsern“ bis zum Ukrainekrieg spannt, suche ich nach Alternativen zum Ortler, der sich gerade in Luft aufgelöst hat.
Mein Routing steht: Ich übernachte morgen in Prad. Der Haken an der Sache, die Wetterprognose für die kommenden beiden Tage ist richtig schlecht .
Es folgen diverse Telefonate mit Kollegen und Bergpartnern, die mir den Monte Cevedale oder bei absolutem Schlechtwetter die Cima Marmotte als lohnende Alternative beschreiben. Beide können von der überaus gut geführten Martellerhütte (O-Ton: Bruno ist ein Bergführer und kennt sich aus) bestiegen werden.
Da ich keine Hinweise von den Kollegen zur Auffahrt erhalte, melde mich sicherheitshalber mit dem Hinweis „komme erst spät“ bei der Martellerhütte zur Übernachtung an.
Am Weg ins Martelltal: es beginnt harmlos
Google zeigt mir 57 km und 1800 HM an. Mit dem zusätzlichen Hüttenzustieg von 500 HM auch keine reine Vormittagsbeschäftigung, aber zumindest ein konkretes Tagesziel.
Wieder mal heißt es Regenstart. Die von meiner Frau als reine Rollstrecke (mit 22 kg Gepäck bergauf rollt man nicht so gut) beschriebenen Radwegkilometer entlang der Etsch stellen sich als erste Warnung für das Kommende heraus.
Meine 3 Lektionen lernte ich bereits am Weg zum Lucknerhaus. Kolonnen von E-Bikes zeigen mir den Weg zum Abenteuer, während Fugazi aus meinen Kopfhörern trällernd eine ständige Diät des Nichts verkünden. Mit meiner Lieblingsband in den Ohren bleibe ich ruhig, halte meine Frequenz und habe mein Ego bestens im Griff.
Als ich die (Achtung ich bin ein Messner Fanboy) Burg Juval passiere, habe ich meinen Plan zum Cevedale im Kopf fertig. In Morter angekommen, suche ich mir ein nettes kleines Hotel in dem ich nach einer kurzen Rast bei ALPS Kaffee und Apfelstrudel noch ein paar Dinge deponieren kann. Es sind rund 4 kg, auch nicht nichts.
Die Hotelbesitzer sind freundlich und lächeln etwas verschmitzt, als ich mein kommendes Radbergankunftsziel bekanntgebe. Sie wissen, was ich (noch) nicht weiß und lassen mich mit den Worten „… nach dem See ists richtig steil“ ziehen.
Danke für den Hinweis!
Auffahrt ins Martelltal: Es beginnt ernst zu werden.
Nach den ersten Kilometern muss ich erkennen, dass meine Google gestützte ungefähre Einschätzung der Topologie nichts mit der Realität zu tun hat. Ja es zieht sich, aber der aufkommende Gegenwind macht meinen Fluchtgang zur Dauerlösung, und es sind noch 900 Höhenmeter.
Zeit der Realität ins Auge zu sehen. Ich nehme den unbestechlichen Rad Ratgeber „quäldich.de“ aus meiner Tasche, öffne ihn und tja, mein Weg entpuppt sich wie befürchtet als ein Giro Etappenziel (ich hatte einmal ungute Erfahrungen am Passo Foppa).
Die Usereinträge mäandern zwischen „richtig steil“ und „frische Erdbeeren im September“ herum. Einzig das Streckenprofil ist objektiv und offenbart am Ende einen Haufen roter Spitzen.
Es ist wie es ist – und es ist steil mit kaltem Gegenwind!
Bei leichtem Regen in übergehendem Schneefall steilt sich die Straße ein letztes Mal mit 13% Richtung Parkplatz zur Martellhütte auf. Mit 18kg Gepäck am Rad werden die letzten Kehren zum Boulderproblem. Kurze Sprints in den flachen Teil der Kehre- Absteigen, kurz den Puls beruhigen und daran denken, dass auch diese Straße irgendwann ein Ende hat.
Die letzten 500 Höhenmeter zum Albergo Schönblick war mehr als hart, aber alles hat ein Ende.
Im Albergo angekommen, erhalte ich auf meine Frage, wo es die Möglichkeit gibt, mein Rad abzustellen, einen Platz im Keller zugewiesen. Die Besitzer sind äußerst nett und zuvorkommend. Schnell erfahre ich den aktuellen Weg zur Martellerhütte.
Nach einer ausreichenden Pause steige ich die restlichen 550 HM auf.
Radabstellplatz im Albergo Schönblick: Endlich am Ziel. Es war lang, steil und hart!
Was ich dann erlebe, ist eine wunderbar. Eine ruhige Stimmung in völliger Einsamkeit am Abend. Hin und wieder Ski abschnallen ist an manchen Stellen angesagt, aber die unglaublich lässige Landschaft und die Aussicht auf ein gutes Abendessen machen den Aufstieg zu einer tollen Erfahrung.
Schlussendlich bin froh über meine heutigen Entscheidungen. Der nette Empfang vom Hüttenwirt inklusive Minestrone und eigenem Zimmer machen mir Mut für den kommenden Tag. Den werde ich noch brauchen …
Kurz vor der Martellerhütte: Die Freude auf eine Minestrone hebt die Stimmung deutlich.
Tagesfazit: Start 5:50 Uhr Zug Lienz–Meran, Rad zum Parkplatz übers Martelltal, Aufstieg zur Martellerhütte, Ende 20:00 Uhr
Höhenmeter #auseigenerkraft : 2.359 HM, Wegstrecke #auseigenerkraft 59,26 km
Tag 4: 24.4.2022. Aufstieg zum "CEVEDALE“, der letzte Wintertag in diesem Jahr und Blauschürzen in freier Wildbahn
Nach einer langen bequemen Nacht im Hüttenbett, schaue ich aus dem Fenster und lege mich gleich wieder hin: 10 cm Neuschnee schon bei der Hütte, keine Sicht und unüberhörbarer Wind. Danke, jetzt nicht. Es wird 6:30 Uhr fürs PRANZO werden.
Die zahlreich anwesenden Cevedale AspirantInnen diverser Alpenvereinsgruppen aus Belluno und Bergamo sollen mal aufspuren. Ich habe keinen Stress und fühle mich in meiner kommenden Rolle als Spurnachgeher nicht unwohl.
Martellerhütte: Ein kalter und windiger Wintermorgen.
Bruno und ich tauschen uns bei echtem Espresso (kein Vergleich zur üblichen Morgenbrühe) über diverse Kletterrouten in den Dolomiten aus. Meine Beine haben sich bestens erholt und ich fühle mich relaxed.
Mein Plan für heute scheint einfach und clever: Ich hole die Gruppen bis zum Beginn des Gletschers ein, frage höflich um einen Platz am Seil bei schlechter Sicht, und fahre dann mit einer der Gruppen ab. Gegebenenfalls würde ich auch Spuren und für gute Stimmung sorgen.
Schnell schließe ich zur ersten Gruppe auf und muss erkennen, dass ab nun Plan C gilt: Cima Marmotte 3.330 m. Nix Cevedale, troppo di nebbia oder so und der italienische Vereinscappo hat seine Gruppe fest im Griff. Okay, zu viel Nebel. Es gibt definitiv keine potenziell Abtrünnigen, die ich zu einem kleinen Cevedale Abenteuer überreden könnte.
Mit der Gruppe gehe ich weiter am Weg Richtung Cima Marmotte. Eine kleine Hoffnung auf meinen Cevedale flammt auf. Über einen kleinen Gratweg, den ich auf der Karte vom Zielgipfel aus zu erkennen glaube, werde ich schon rüberkommen....
Es zieht herum, und alle warten auf eine gute Spur….
Also warte ich auf die nächste Gruppe. Vergeblich. Sie kommt nicht. Die Sicht wird schlechter und der Wind nimmt zu. Mit anderen Worten, wenn ich heute noch einen Gipfel erreichen will, dann ist alles außer der Cima Marmotte eher unerreichbar.
Ich starte nun Richtung der mir unbekannten Cima. Die Spur wird steiler und unentschlossener. Murren macht sich breit und es schaut nach aufkeimender Demokratie im italienischen Alpenverein aus.
Richtig geraten, denn jetzt ist Schluss mit dem Luxus einer italienischen Edelspur. Giro di Cima Marmotte geht zu Ende und ich werde höflich nach vorne durchgereicht. Soll ER doch wenn er will. Auch gut, mach ich kein Problem. Ich spur die letzten 100 HM auf und erreiche den ziemlich unspektakulären Gipfel mit Null Sicht und keiner Hoffnung auf einen Weiterweg zum Cevedale.
Einige folgen mir nach, einer zückt seine Mundharmonika und stimmt ein ziemlich verqueres Country Roads an. Mille grazie, bravo. Zumindest die Unterhaltung kommt nicht zu kurz.
Am Gipfel der Cima Marmotte: Weiterweg sinn- und spurlos. Ab nach unten.
Eine spannende Abfahrt beginnt. 10 cm Neuschnee auf den Sharks bedingen eine sorgsame Spurwahl, die über die spektakuläre Brücke zurück Richtung Raddepot führt.
Mit dem Tobi vom Hotel Schönblick: Es ist nach wie vor winterlich.
Die Skitour endet mit einem guten ALPS Cafe und ein paar netten Wort im Hotel Schönblick.
Ich freue mich, die richtige Entscheidung getroffen zu haben, denn der heutige Bergtag war noch ein echter Wintertag .
Bei der Sicht alleine am Ortler eher ein Fall für den Chronikteil der örtlichen Zeitung geworden.
Es war hoffentlich der letzte Wintertag in diesem Jahr. Ein letztes Mal lege ich die komplette Schlechtwetterbekleidung an.
Neuschnee und leichter Schneefall erwarten mich. Mein Rückweg mit dem Rad durchs Martelltal ist kalt und windig. Ich freue mich, als ich mein Materialdepot im Tal erreiche.
Nicht nur die freundlichen Wirtsleute, sondern auch die durchbrechende Sonne empfangen mich. Endlich kann auf leichte Radbekleidung umstellen und den beschwingten restlichen Kilometern nach Prad steht nichts mehr im Wege.
Ein paar lokale Skitourengeher, die mich auf der Talfahrt vom Hotel Schönblick überholt haben, nehmen mein Rad inklusive Gepäck in Augenschein und erkundigen sich nach meinen Zielen. Schnell kommen wir ins Gespräch und ich freue mich über die anspornenden Worte.
Meine Weiterfahrt über den Etschtalradweg ist eines der Erlebnisse, die unsere Unternehmungen in Eis und Schnee so besonders machen: Noch vor fünf Stunden befand ich mich bei Starkwind und null Sicht in einer unangenehmen Situation und jetzt fahre ich im nachmittäglichen Sonnenschein durch blühende Apfelplantagen Richtung Tagesziel.
Am Weg durchs Etschtal: Es wird frühlingshaft und es gibt schöne Postkarten.
Das Gras ist grüner als sonst, die vereinzelt blühenden Fliederbuschen riechen besonders intensiv, und der Apfelstrudel „… mit alles!“ schmeckt doppelt so gut!
Der aufkommende Gegenwind stört nicht, vielmehr belebt er! Ich verspüre Auftrieb und freue mich auf die kommenden Tage.
Das Abendprozedere der Rad- und Gepäckwäsche wird aufgrund der vorhandenen Waschtrockner Kombi im Hotel erweitert. Morgen werde ich den Ofenpass mit frischgewaschener Radbekleidung in Angriff nehmen.
Die Verschmutzungen beseitigt. Bislang fahre ich defektfrei.
Die Gastfreundschaft im Hotel, oder besser gesagt, Etappengasthaus folgt allerdings einer etwas eigenwilligen Interpretation. Ich nehme generationenübergreifende Ignoranz wahr, die mich an den zwischenmenschlichen Umgang eines österreichischen Amtes in den 1980er-Jahren erinnert.
Doch das stört mich heute nicht mehr. Die Pizza kann man essen, und ein altes Sprichwort fällt mir- in abgewandelter Form ein:
„… Du kriegst einen Mann aus der blauen Schürze, aber Du bekommst die blaue Schürze nicht aus dem Mann!“
Den restlichen Abend verbringe ich mit einer beherzten Sortieraktion, den morgen ist ein reiner Radtag!
Tagesfazit: Start 6:30 Uhr, Aufstieg Richtung Monte Cevedale, Gipfel Cima Marmotte , Abfahrt Schönblick, Rad nach Prad, Ende 17:14 Uhr
Höhenmeter #auseigenerkraft : 1.106HM, Wegstrecke #auseigenerkraft 40,60 km
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